[Lesehighlight] Die niedrigen Himmel – Anthony Marra

AMarraMan könnte meinen, ein Roman über den Tschetschenienkrieg sei trocken, zehrend oder wie so manche Bücher, die Geschichten der Leidenden erzählen, einfach nur pathetisch aufgeladen. Doch Anthony Marra hat mit seinem Debüt „Die niedrigen Himmel“ ein Buch verfasst, das nicht ferner davon sein könnte. Er gibt den Menschen eine Stimme, die man als Leser hören will.

Der Autor nimmt den Leser für fünf Tage mit in das Herz des Tschetschenienkrieges 2004 und zeigt ihm die Menschen, die einen Umgang damit suchen und finden müssen.

Es ist schwierig den Inhalt der Geschichte zusammenzufassen, ohne etwas zu verraten. Das Grundgerüst bildet das achtjährige Mädchen Hawah, deren Vater von den Föderalen verschleppt wurde und die sich nun selbst ahnungslos in der grausamen Realität überlassen ist. Jedoch weiß sie nicht, dass auch ihr Leben in Gefahr ist und kann sich glücklich schätzen, dass ihr Nachbar Achmed sie aus ihrem Versteck befreit, um sie zu beschützen. Sie flüchten in das nahegelegene Krankenhaus, wo sie auf die russische Chirurgin Sonja treffen, die täglich ihre eigenen Kämpfe mit sich und den Patienten auszutragen hat und deshalb zunächst nichts mit den beiden anfangen kann. Doch auch sie wird bald entdecken, dass diese Begegnung für ihr eigenes Schicksal eine besondere Bedeutung hat. Der Autor führt den Leser während der Geschichte immer wieder in vergangene Jahre und Ereignisse aller Beteiligten, so dass sich die Hintergründe bis in die Gegenwart langsam auffächern. Die Wege aller werden sich irgendwie, irgendwann kreuzen, auch wenn das vorher nicht für sie absehbar ist.

Marra hat es geschafft, mich mit seiner bildreichen Sprache in die Seiten zu verwickeln und stellenweise fast zu betäuben, so dass ich die Realität während des Lesens verlassen habe, um die Protagonisten durch die Jahre in Tschetschenien und ihre jeweiligen Schicksale zu begleiten. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass mich ein Buch über den Krieg so fesseln, mitreißen, berühren und unterhalten kann. Es hat genau den richtigen Ton getroffen, ohne zu emotional oder zu nachlässig zu sein. Man könnte zudem meinen, das man sich gar nicht im Jahr 2004 befindet, sondern es könnte einen Krieg zu jeder beliebigen Zeit abbilden.

Der Autor schafft ein universelles Bild, das die skurrilen Gegensätze einer solchen Situation für die Menschen, die diesen Krieg jahrelang bewältigen müssen, sehr authentisch und überzeugend verdeutlicht, ohne dabei eindimensional zu werden. Jede Figur hat ihren individuellen Reiz für mich und wurde in all ihren positiven wie negativen Facetten beleuchtet, die allesamt sehr nachvollziehbar verdeutlich sind. Besonders gefallen hat mir, dass ich die Menschen in ihrer biografischen Gesamtheit kennenlernen durfte. Sowohl die Vergangenheit, als auch die Zukunft wurden in Episoden erzählt und bis zur letzten Seite jede Verwicklung aufgelöst. Marra schafft es neben der Tragik auch die Komik einer solchen Ausnahmesituation zu verdeutlichen ohne geschmacklos zu werden und man kann nicht anders, als stellenweise zu lachen. Ich konnte mit jedem einzelnen Menschen mitfiebern und wollte wissen, welches Schicksal letztendlich auf ihn wartet.

Insgesamt hat der Autor für mich einen sensiblen und neutralen Umgang mit diesem brisanten Thema gefunden und beschreibt sehr dicht eine Achterbahn der Gefühle, die für jede Figur einen anderen Ausgang findet. Anthony Marra gelingt es, einfache Dinge zu Besonderheiten zu machen, die mich oft zum Nachdenken angeregt haben. Noch nie wurde ein Krieg für mich so greifbar und hat gleichzeitig so viel Hoffnung inmitten von Destruktion gestreut. Ich bin sehr auf seinen nächsten Roman gespannt und hoffe, dass er mich ebenso begeistern kann. Für mich ist dieses Buch bereits ein absolutes Jahreshighlight und ich werde es aufgrund des atemberaubenden Schreibstils noch mal im Original lesen. Ich erteile also nicht nur eine Leseempfehlung, sondern einen Lesebefehl! 😉

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